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Zukunft Europas: Beethoven oder Schönberg, Ode an die Freude oder Dodekaphonie?

Deutsche Seiten, 23. 4. 2008

Ich danke der Bertelsmann Stiftung für diese Veranstaltung und – ich muss ganz aufrichtig sagen – auch für Ihren Vorschlag des Themas meiner heutigen Rede „Zukunft Europas“.

Wenn ich mir erlaube über dieses Thema hier in Berlin zu sprechen, wird es meinerseits kein Versuch um eine abstrakte, technokratische Futurologie. Es wird auch keine heute so populäre Flucht in die Zukunft oder Träumen über die Zukunft sein. Für mich geht es um die Debatte über die Gegenwart. Ich werde mich bemühen, über die Tendenzen, die ich in Europa sehe, nachzudenken. Und zwar aus der Position von jemandem, der in der kommunistischen Ära eine erhöhte Sensibilität in der Frage der Freiheit erworben hat. Auch deshalb halte ich die Freiheit für das Leitprinzip jener menschlichen Gesellschaft, in der man gerne leben wollte. Dies ist meine Ausgangsvoraussetzung. Es wäre ein Fehler, sie zu verschweigen.

Das Wort Freiheit wird von vielen relativ oft benutzt, die Frage ist, ob sie es ernst nehmen. Ich habe Angst, dass es heute nicht der Fall ist. In einer Zeit, wenn das Ziel alles Strebens irgendein mythisches allumfassendes Gutes ist, gibt es fast keine Nachfrage nach Freiheit.

Ich habe Angst auch davor, dass es nur wenige stört. Es könnte sein, dass man – mit dem Fall des Kommunismus und mit dem Verlust des Spiegels, den er dem Westen vorgehalten hat – das faktische Wesen unserer Zivilisation vergessen hat. Wohin sollten wir weiter gehen? Es droht, dass wir stehen bleiben oder nur ratlos auf der Stelle treten werden. Dass wir nur vorgeben werden, noch immer vorwärts zu gehen.

Der weltbekannte tschechische Schriftsteller und Dramatiker Milan Kundera fragt am Ende seines Theaterstückes „Jacob der Fatalist“: „Vorwärts, aber wohin ist vorwärts?“. Das Resultat ist, dass der Held des Stückes gelähmt stehenbleibt. Ähnlich sieht das heutige Europa aus. Es möchte vorwärts gehen, was aber unmöglich ist. Um vorwärts zu gehen, müssen wir erst – auch wenn es etwas paradox erscheinen kann – rückwärts gehen. Rückwärts zu den Wurzeln, auf denen die modernen europäischen Demokratien ihre Erfolge, einschließlich ihrer Prosperität, aufgebaut haben. Und dort steht das Wort Freiheit.

Manche haben andere Ansichten, trotzdem glaube ich, dass in Deutschland, im Lande, das im 20. Jahrhundert eine schreckliche Ära des Nationalsozialismus erlebt hat, und dessen östlicher Teil ähnliche Erfahrungen mit dem Sozialismus einer kommunistischen Variante hatte, diese meine Haltung gewisses Verständnis finden könnte. In anderen Ländern ist es schwieriger.

Vielleicht haben Sie meine Ergänzung des von Ihnen vorgeschlagenen Titels bemerkt. Was bedeutet diese „musikalische Analogie“ von jemanden, der keine tieferen musikalischen Kenntnisse hat? Was bedeutet sie in einem Lande, das durch Musik fast definiert wird? Ich würde mir nie erlauben, Beethovens Größe in Frage zu stellen. Es scheint mir jedoch, dass das „künstliche Anhängsel“ zur Neunten Symphonie in seinem ganzen Werk wahrscheinlich die problematischste Sache ist. Der pathetische Hymnus nach Schillers Text ist alles, nur nicht die Reflexion der Realität oder ein Anzeichen des weiteren Wegs. Die Sucht nach der allgemeinen Verbrüderung der Menschheit ist ohne Zweifel etwas lobenswertes, hat aber mit der Realität seiner Zeit, aber auch der heutigen Zeit und aller Zeiten, die wir uns vorstellen können, nicht vieles gemeinsam.

Schönberg war einer der ersten, die eine ganz neue Weise der Organisation der Töne, die später Dodekaphonie genannt wurde, entdeckt haben. Sie bedeutete eine totale Negation irgendwelcher Tonhierarchie, die die Basis der harmonischen Musik dargestellt hat. Dodekaphonie war – meiner Meinung nach – sicherlich nicht nur ein Produkt der Musikselbstentwicklung. Sie hat die Gefühle des Autors von der damaligen Realität ausgedrückt.

Diese Musik wurde in der totalitären Tschechoslowakei nicht positiv angenommen. Die Ideologen der kommunistischen Partei haben sie für unverständlich gehalten, für etwas, was das Volk nicht braucht. Beethovens Ode an die Freude hat – im Gegenteil – das jährliche, in der ganzen Welt damals wie auch heute respektierte internationale Musikfestival Prager Frühling regelmäßig abgeschlossen.

Es ist hoffentlich klar, wohin diese meine Analogie führt. Ich frage, was ist der bessere Ausdruck unserer Gegenwart und der daraus ausgehenden Zukunft: Beethovens Ode oder Schönbergs Serenade? Anders gesagt, wollen wir über unsere Zukunft romantisch träumen oder wollen wir die Kakophonie, die die real existierenden Interessen und die innerhalb des europäischen Kontinents durchgehenden Tendenzen ausdrückt, ernst nehmen? Wir sollten wissen, was das für unsere Zukunft bedeutet.

Was sehe ich heute in Europa?

Auf der einen Seite sehe ich eine seltsame ideologische Ruhe, die nach dem Fall des Kommunismus eingekehrt ist. Europa bewegte sich trotzdem. Während die Europäer vom Ende der Geschichte geträumt haben, ist es schleichend zu einer wichtigen Verschiebung gekommen. Die Richtung der Verschiebung an der Achse Bürger-Staat und an der Achse Markt-zentralistische Regulierung und Reglementierung war ganz anders als wir in den damaligen kommunistischen Ländern in dem glücklichen Moment des Falls des Kommunismus erwartet haben. Wir wollten näher am Bürger und am Markt und weiter vom Staat und seiner Regulierung sein als wir heute sind. Es ist leider nicht so. Wir sind wieder von David Hume und Adam Smith zu J. J. Rousseau gegangen, obwohl wir geglaubt haben, dass es anders sein wird. Dies nicht zu merken, könnte fatal sein.

Ich sehe auch die formale Freiheit und Demokratie, die sich aber in der Realität in ein reguliertes System und in die Postdemokratie umwandeln. Die Rechtsordnung innerhalb der einzelnen Staaten stellt den Bürger gegenüber dem Staat immer mehr in eine untergeordnete Position und die wachsende Rolle von internationalen Organisationen (vor allem von der EU) vergrößert den Abstand zwischen dem Bürger und dem Politiker auf früher ungeahnte Weise.

Man sieht auch, dass Europa ein relativ reicher und ökonomisch entwickelter Kontinent ist, aber gleichzeitig sieht man die fast stagnierende Wirtschaft in vielen westeuropäischen Ländern. Viele von uns denken, dass das durch das postbismarckische Sozialsystem einer höchst paternalistischen Variante verursacht wird. Zu einem neuen Phänomen wird die künstliche Bremsung des Wirtschaftswachstums durch eine ganz unnötige Verteuerung der Energie auf Basis von irrationalen environmentalistischen Vorstellungen.

Ich sehe auch einen starken Druck, die Einigung des Kontinents in eine supranationale Gesamtheit herbeizuführen, was aber im Widerspruch zur historischen Erfahrung ist. Europa war in der Vergangenheit nie eine politische Entität (und ohne Zweifel muss es auch nicht eine werden). Es genügte, dass Europa „ein geistlicher und kultureller Referenzrahmen“ war. Gerade in diesem Sinne steht für mich die Ode an die Freude als ein Symbol der künstlich organisierten Verbrüderung.

Ich sehe auch leere und unproduktive Phrasen des abstrakten Universalismus und Humanrightismus, ich sehe Pharisäertum der politischen Korrektheit, ich sehe den Verlust von Kriterien für die Beurteilung dessen, was gut und was schlecht ist, ich sehe die Leugnung jeder Autorität (unter dem Banner des Antitotalitarismus), ich sehe die Steigerung der Gewalt, des Extremismus, der Grobheit und der Vulgarität.

Was wird geschehen, wenn wir diesen angetretenen Kurs weiter fortsetzen werden? Ich befürchte, es werden keine Utopien, sondern Antiutopien realisiert. Es wird eher eine Brave New World von Huxley, eine Welt von Zamjatin, Orwell und Denkern dieses Typs, als eine Idylle der utopistischen Sozialisten über den Sonnenstaat.

Die Zukunft vorherzusagen ist schwierig, aber die Fragen zu stellen ist notwendig.

Was wird in Europa mit dem politischen System geschehen? Wird die so unterschätzte und geschädigte parlamentarische Demokratie, die auf ideologisch definierten politischen Parteien basiert, erhalten bleiben? Wird sie unter dem Druck der sensationshungrigen, online funktionierenden Medien, für die die Substanz und der Kontext nicht wichtig sind, überleben? Wird sie die wachsende Bedeutung der verschiedenen NGOs überstehen, die sich bemühen, Demokratie in NGOismus umzuwandeln? Wird das bürgerliche Prinzip als Hauptmechanismus bestehen bleiben oder wird der Zusammenstoß von verschiedenen aggressiven, partiale Themen aufstrebenden lobbyistischen Gruppierungen überwiegen? Wird das Gemeininteresse für das System als Ganzes und für die prozedurale Demokratie entscheidend bleiben, oder wird das Partialinteresse für diese oder jene konkrete Sache gewinnen? Die passive Extrapolation der Gegenwart bringt keine guten Perspektiven.

Was wird mit dem wirtschaftlichen System geschehen? Werden wir das von Schumpeter vorausgesehene Ende des Kapitalismus erleben, wenn der Entrepreneur verschwinden und der die EU-Mittel verteilende Beamte dominieren wird? Wird eine genügend hohe Arbeits- und Leistungsmotivation den steigenden Wohlstand überleben? Werden die Menschen ihren Arbeitseifer nicht verlangsamen? Werden sie nicht ihre Motivation verlieren? Keynes hat bereits vor 80 Jahren gedacht, dass „with growing income, the marginal utility of income would fall.” Wird die europäische Wirtschaft die Anspruchbarkeit des heutigen Sozialsystems überleben? Trotz aller Reformexperimente schiebt sich dieses System immer mehr in Richtung Immunisierung der Qualität des Lebens der Menschen von ihrer faktischen persönlichen Leistung. Wird die Wirtschaft den Angriff des Environmentalismus (Ökologismus) überstehen, dessen Ausdehnung die rational denkenden Menschen nicht in genügendem Maße entgegenstehen? Wie ist es überhaupt möglich, dass eine so dubiose Doktrin eine solche Popularität gewinnt? Auch in diesem Falle ist die passive Extrapolation nicht gut.

Was wird mit Europa im Falle der evidenten Alterung der Bevölkerung geschehen? Wie wird sie sich damit auseinandersetzen? In der EU gibt es heute 35 Pensionäre auf 100 Angestellte, im Jahre 2050 werden es schon 75. Wie wird Europa ihre relative Verkleinerung ertragen? Im Jahre 1950 lebte 22% der Weltbevölkerung in Europa, im Jahre 2000 nur 12% und im Jahre 2050 wird das nur 7% sein. Was werden die Folgen der Unwilligkeit der Europäer, manche weniger angenehme oder weniger inspirative Professionen auszuüben, die trotzdem ausgeübt werden müssen? Diese kann man leider nicht einfach und irgendwohin outsourcen. Die Verachtung verschiedener blue-collar-Jobs hat auch zu einer falschen Struktur des Erziehungssystems und zu einer sehr kontroversiellen Verlängerung der Studiumslänge geführt. Der in mir versteckte Volkswirt muss sagen „the overall effect of education is large, but the marginal effect is small.” Dazu kommt ein steigender Zustrom der Arbeitskräfte und Immigranten von verschiedenen fremden zivilisatorischen und kulturellen Kreisen, was die Kohärenz der Gesellschaft grundsätzlich stört, auch wenn uns die Ideologen des Multikulturalismus ganz anderes zu suggerieren versuchen. Kann das alles zum Stillstand gebracht werden?

Was wird mit der Demokratie geschehen, die nur auf der Ebene von Nationalstaaten fungiert, wenn diese Staaten heute in Europa unterdrückt und geschwächt werden? Wissen das die Anhänger der unlimitierten Vertiefung des europäischen Unifizierungsprozesses nicht? Freuen sie sich schon auf die quasi unpolitischen, technokratischen Entscheidungen der supranationalen Institutionen, von denen der Bürger nicht zu sehen ist? Freuen sie sich auf die von den Bürgern unkontrollierbaren gesamtkontinentalen Entscheidungen? Auch darin sehe ich ein großes Problem der heutigen Zeit und besonders unserer Zukunft.

Die Frage also ist: Wird uns zu einer besseren Zukunft Beethoven führen oder brauchen wir mehr von Schönberg? Und kann man damit etwas machen? Ja, man kann. Die einzige ungefälschte Ode an die Freude heißt Freiheit. Und sie wird am besten von einem Chor jener gesungen, die von niemandem an den Händen geführt werden. Von einem Chor jener, denen es ermöglicht ist, in Freiheit zu leben, zu schaffen und zu suchen. Das ist für mich die positive Variante der Zukunft Europas.

Václav Klaus, Die Rede in der Bertelsmann Stiftung in Berlin, 23. April 2008

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