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Hamburger Rede über Europa

Deutsche Seiten, 7. 6. 2011

Sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für Ihre Einladung und für die Möglichkeit nach relativ langer Zeit wieder einmal in Hamburg zu sein. In den letzten ein paar Jahren war ich in vielen deutschen Städten – Berlin, Dresden, Düsseldorf, Bochum, Frankfurt, Freiburg, München, Passau, Nürnberg, aber hier in Hamburg war ich, wenn ich mich nicht irre, zum letzten mal vor sechzehn Jahren. Am 24. Februar 1995 habe ich hier – zusammen mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen Kurt Biedenkopf – als Ehrengast beim Matthiae-Mahl eine Rede gehalten. Ich erinnere mich noch heute an die festliche Atmosphäre im Großen Festsaal Ihres Rathauses.

Letztes Jahr hatte ich in Prag ein freundliches Treffen mit dem damaligen Ersten Bürgermeister von Hamburg, Herrn Christoph Ahlhaus. Ich habe ihm versprochen, in diesem Jahr zu einem offiziellen Besuch nach Hamburg zu kommen. Dabei ist es mir eingefallen, dass ich bei dieser Gelegenheit die Einladung von Ihrem Club, die ich schon seit vielen Jahren auf dem Tisch habe, realisieren könnte. Also endlich bin ich da.

Heute Abend möchte ich hier über Europa, oder genauer gesagt, über die Europäische Union sprechen. Dieses Thema nehme ich sehr ernst, ähnlich wie in den neunziger Jahren den Kollaps des Kommunismus und den Aufbau der freien und demokratischen Gesellschaft in unserem Lande. Dieses „alte“ Thema ist heute nicht mehr interessant, Menschen vergessen sehr gern und sehr schnell. Sie erinnern sich jetzt nur sehr oberflächlich an das, was im Kommunismus singuläres, das heißt unwiederholbares, war, aber sie unterschätzen, was darin allgemeines und wiederholbares – d.h. heute gefährliches – sein könnte. Das kann dazu führen, dass sich die Geschichte – unter anderen Fahnen und Parolen – wiederholen wird.

Ich habe schon viele Reden über Europa gehalten, viele Aufsätze geschrieben und sogar Bücher verfasst, aber immer wieder habe ich das Gefühl, dass meine Ansichten über Europa von vielen Politikern und Journalisten nicht nur trivialisiert und missinterpretiert, sondern sehr oft auch karikiert und dämonisiert werden. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, wenn am Anfang dieses Jahres mein Buch (eine Sammlung von meinen Reden und Aufsätzen) zu diesem Thema in Nürnberg veröffentlicht wurde. Für mich war es auch eine große Ehre, dass der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog zu diesem Buch ein Vorwort geschrieben hat. Was die Themen meines Buches betrifft, ist mir Dr. Herzog von den deutschen hochstehenden Politikern der letzten Zeit am nahesten. Das Buch kann man hier – hoffe ich – erhalten, das heißt kaufen.

Mit ein wenig Bedauern habe ich verstanden, dass die Ideen per se und alle ihre mögliche Verbesserungen und Ergänzungen die Politik sowie die Medien nicht ändern können. In der letzten Zeit haben wir aber eine wichtige Hilfe bekommen – die reale Situation in Europa. Die Entwicklungen auf unserem Kontinent, welche nicht mehr zu verbergen sind, führen dazu, dass immer mehr Menschen endlich zur Überzeugung kommen, dass mit Europa manches nicht in Ordnung ist.

Für mich ist die Lage in Europa kein akademisches Thema, das nur eine intellektuelle Kuriosität darstellt. Ich lebe hier und es betrifft mich persönlich. Die Probleme, die ich sehe und die – glaube ich – alle Menschen, die offene Augen haben, auch sehen müssen, sind keine Randphänomene der europäischen Integration, die man – eventuell – mit ein paar einfachen Maßnahmen beseitigen könnte. Ich halte sie für Geburtsfehler, die man ohne tiefe Umstrukturierung des gesamten Konzepts der europäischen Integration nicht korrigieren kann.

In der EU – und ich unterscheide grundsätzlich zwischen der EU und Europa – haben sich in den letzten Jahrzehnten, nach dem relativ erfolgreichen Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg, einige Prozesse in Gang gesetzt, die ich negativ, sogar vernichtend für die Freiheit und Prosperität in Europa finde. Wo sehe ich sie?

1. Europa hat das System der paternalistischen und deshalb unproduktiven sozialen Marktwirtschaft mehr und mehr, tiefer und tiefer angenommen, wenn nicht „domestiziert“;

2. die Ineffektivität dieses Wirtschaftssystems wurde im Laufe der Zeit durch die Akzeptanz der grünen Ideologie des Environmentalismus radikal erhöht, was die heutige Debatte über die Atomkraftenergie in ihrem Land so klar zeigt;

3. der daraus entstandene Verlust der Motivation der Menschen zur Arbeit und Selbstvervollkommnung wurde mit der massiven Immigration unter der Fahne des Multikulturalismus weiter verstärkt;

4. die Staaten, die den einzigen und unersetzbaren Raum und Mechanismus darstellen, wo Demokratie möglich ist, wurden systematisch – und leider erfolgreich – unterdrückt und geschwächt. Es scheint, dass die Europäer vergessen haben, dass alle bekannten Beispiele des Totalitarismus in Strukturen größer als der Staat, d.h. in Imperien oder Reichen entstanden sind;

5. die mit Europa verbundene Individualität und Diversität der europäischen Länder und die sich daraus ergebende Dynamik der Wirtschaft und Gesellschaft wurden durch die administrative Integration und Unifizierung (ich benutze absichtlich diesen Terminus), durch die exzessive Standardisierung und Harmonisierung und durch den Übergang vom Intergovernmentalismus zum Supranationalismus verloren.

Das sind die Themen, die ich aus verschiedenen Perspektiven in meinem Buch diskutiere. Zu einigen von diesen Themen möchte ich jetzt ein paar kurze Bemerkungen angeben.

Viele Europäer, besonders die Deutschen, gehen davon aus, dass „je mehr Europa, desto besser“, „je tiefer wir integrieren, desto mehr gewinnen wir“, „je mehr der Staat in Europa zu Gunsten der europäischen Institutionen unterdrückt wird, desto besser“, usw. Anders gesagt, sie verteidigen und unterstützen das Projekt der  „ever-closer Europe“. Über die Rationalität dieses Projektes, über seine Vorteile und Nachteile, über seine Kosten und Erträge diskutierte man fast nicht. Es wurde als eine unumstrittene Prämisse angenommen, was ich nie akzeptieren kann. Zu lang habe ich in einem gesellschaftlichen System gelebt, wo ähnliche unumstrittene Prämissen unser Leben dominierten. Das heutige oder heute durchgesetzte Projekt der europäischen Integration ist ohne Zweifel nicht unbestreitbar.

Europa sollte nicht unifiziert werden. Diese Entität ist ein sehr kompliziertes Konglomerat von historischen Entwicklungen, von rationalen oder irrationalen Befürchtungen und Vorurteilen, von vielfältigen und belastenden historischen Erfahrungen, aber auch von völlig legitimen und sich stark unterscheidenden Interessen einzelner Personen und ganzer Völker, welche in Europa leben. Auf diesem Terrain sich ohne Respekt vor seiner Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit zu bewegen, ist ein Ausdruck gewisser Blindheit und Taubheit, die in sich große Gefahr bergen.

Diesen Respekt habe ich. Wenn ich meine Position kurz, in ein paar Sätzen, zusammenfassen sollte, muss ich sagen, dass ich ein Europa auf der Basis von Intergovernmentalismus will, das heißt auf einem Minimum von Supranationalismus. Ich will ein Europa, das auf vernünftiger und freundschaftlicher Zusammenarbeit von gleichwertigen und souveränen europäischen Staaten basiert. Ich will kein von oben organisiertes Heimatland aller Europäer. Vor allem will ich als Grundprinzip jeder menschlichen Gemeinschaft, in der es möglich ist, in Freiheit zu leben, das Institut der Bürgerschaft. Die Bürgerschaft auf kontinentaler Ebene zu erschaffen geht aber nicht. Sie kann nur auf der Ebene des Staates (und der Staaten) existieren. Dies halte ich für unbestreitbar.

Ich befürchte auch, dass die weitgehende Europäisierung aller wesentlichen Aspekte unseres Lebens zum Identitäts- und Souveränitätsverlust der einzelnen europäischen Länder, vor allem der kleinen, führen würde. Etwas Ähnliches hat auch das kommunistische Regime gemacht. Dieses Regime wurde von oben, nicht von unten organisiert. Es hat die Bürgerschaft unterdrückt. Es wurde auf Internationalismus aufgebaut, nicht auf dem Respekt vor dem Staat als der notwendigen und unersetzlichen Entität jeglicher wirklich demokratischen politischen Ordnung. Wie wir heute leider sehen können, war das kommunistische Regime in dieser Hinsicht nicht ein singuläres Phänomen.

Die kommunistische Erfahrung war für manche Menschen wahrscheinlich leider nicht ausreichend. Die neuen Mitgliedstaaten der EU haben – trotz ihrer tragischen Erfahrung mit dem Kommunismus und der mit ihm verbundenen Form der Integration der Länder Mittel- und Osteuropas – zu meiner großen Enttäuschung nicht die Rolle des so nötigen Korrekturfaktors zum bisherigen Model der europäischen Integration gespielt. Sie sind einen anderen Weg gegangen. Sie bemühten sich, so bald wie möglich „in“ zu sein, damit sie nicht die Möglichkeiten verlieren, sich an den positiven Effekten des europäischen Integrationsprozesses zu beteiligen. Die negativen Effekte haben sie völlig und ganz leichtsinnig außer Acht gelassen.

Dadurch ist es zu keiner Korrektur gekommen. Die politischen EU-Eliten haben in den letzten Jahren das erreicht, was sie vorhatten. Die EU hat ihre Verfassung (obwohl sie nicht als Verfassung bezeichnet wird), ihren Präsidenten und ihren Außenminister. Sie ist also ein Staat – wenn auch ohne Fahne und Hymne.

In der Realität sieht es ganz anders aus. Die EU-Fahnen sind überall zu sehen und die EU-Hymne wird immer öfter gespielt, obwohl sie beide aus dem Lissabon-Vertrag explizit gestrichen wurden. Auf der anderen Seite, die Funktion des Präsidenten und des Außenministers ist mehr oder weniger formal und die faktische Macht liegt auch weiterhin im deutsch-französischen Tandem. Mit dem Lissabon-Vertrag hat es noch weiter an Stärke zugenommen.

In neuer Form und Intensität zeigt sich auch das Problem der Minderheiten – der „historischen“ Minderheiten, die schon lange Zeit auf dem Gebiet der Nachbarstaaten leben, als auch der „neuen“ Minderheiten, die in den letzten Jahrzehnten vor allem durch die ökonomisch motivierte Migration entstanden sind. Das ist nicht zu unterschätzen. Die Auflösung der Staatsgrenzen und die Umwandlung Europas von „Europa der Staaten“ zu „Europa der Regionen“, beides auf der Basis der Ideologie des Multikulturalismus, bringt große Probleme mit sich. In meiner Nähe sehe ich sie an dem Benehmen verschiedener Minderheiten, die im Gebiet ihrer Nachbarstaaten leben (und lange Zeit gelebt haben), die durch die Vertiefung der Integration, durch die Anwendung und Umsetzung des Schengener Abkommens und durch die heutige multikulturalistische politische Korrektheit neue Ambitionen bekommen haben. Ähnlich ist das auch mit den Auswirkungen der neuen Immigration. Wir müssen den Mut haben, uns mit der Ideologie des Multikulturalismus auseinanderzusetzen, denn nur so wird unser Kontinent wieder nach geprüften demokratischen Regeln funktionieren.

Ein kardinaler Fehler war der Euro. Wie alle anderen institutionellen Gestaltungen, hat auch er seine Vorteile und Nachteile, Erträge und Kosten. Jede Münze hat zwei Seiten, auch der Euro, und man sollte nicht nur über das Positive sprechen, wie es oft der Fall ist. Eine gemeinsame Währung für verschiedene Länder schaffen zu wollen ist eine komplizierte Sache. Darauf habe ich schon vor 20 Jahren hingewiesen und deshalb ist für mich die heutige Entwicklung in der Euro-Zone keine Überraschung. Als Wirtschaftswissenschaftler halte ich es für falsch, das Instrument der flexiblen Wechselkurse aufzugeben, und damit eine wichtige wirtschaftspolitische Anpassungsmöglichkeit zu verlieren. Ich sehe keine Möglichkeit zur Lösung der heutigen griechischen (und möglichen weiteren) Krise im Rahmen des Euro-Systems. Aber darüber will ich heute nicht ausführlich sprechen, es gibt keine politisch korrekte Lösung dieser Sache.

Es gibt sicherlich viele andere Themen, die hier heute Abend diskutiert werden könnten. Man könnte zum Beispiel die heutigen, ganz absurden Vorschläge für Atomausstieg in ihrem Land erwähnen. Dazu möchte ich folgendes anführen: die Tschechische Republik wird ihre Kernenergie nicht aufgeben. Ganz umgekehrt. In Südböhmen plant sie den Aufbau von weiteren Blöcken des Atomkraftwerkes Temelin. Ich glaube nicht den Aposteln, die heute gegen die Kernenergie kämpfen. Ich glaube nicht an ihre Aufrichtigkeit. Ich glaube nicht, dass sie wirklich überzeugt sind, dass die Menschheit eine Pflicht hat, das Vorsorgeprinzip in allen solchen Fällen ohne Rücksicht auch ihre Folgen verwenden zu müssen. Sie sind auch nicht ganz unschuldig. Hinter ihren angeblich guten Absichten versteckt sich der Lobbyismus von Herstellern alternativer Energieressourcen.

Und noch etwas. Wenn ich mich nicht irre, ist noch niemand in Fukushima sowie in Deutschland an die Strahlungskrankheit gestorben. Die Gurkenkrankheit hat schon 22 Opfer. Wo ist hier das Vorbeugungsprinzip geblieben?

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Václav Klaus, Übersee-Club e.V., Laeiszhalle, Johannes-Brahms-Platz, Hamburg, 7. Juni 2011

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