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Es ist die Zeit, die ukrainische Krise in einen breiteren Kontext einzuordnen

Deutsche Seiten, 13. 2. 2015

Als ich angefragt worden bin, am diesjährigen Kongress zum Thema Ukraine zu sprechen, habe ich mit meiner Zustimmung gezögert, obwohl es sich für mich um ein großes, vielleicht das größte Thema der Gegenwart handelt. Ich bin mir nämlich dessen gut bewusst, dass sich meine Ansichten außerhalb des „Mainstreams“ befinden und dass sie hier nicht besonders willkommen sein müssen. Ich habe auch gewusst, dass hier wirkliche Kenner der Ukraine, und sogar eine Reihe von Insiders, anwesend sein werden, an der ersten Stelle Herr Präsidenten Juschtschenko, den ich vor knapp 10 Jahren in seinem Amt bei einem Staatsbesuch in Kiew besucht hatte. Ich will auch nicht vorgeben, dass ich ein Experte für Ukraine bin, ein Mensch, der tagtäglich die Entwicklung der dortigen Situation beobachten würde.

Ich habe mich entschieden, die Einladung vor allem deswegen anzunehmen, dass ich der Meinung bin, dass unsere gegenwärtige Debatte eigentlich nicht über die Ukraine ist. Im Laufe der Zeit beginnt es mir immer klarer zu sein, dass es in der sog. ukrainischen Krise oder – wie es immer öfters interpretiert wird – in dem ukrainisch-russischen Konflikt um etwas anderes geht. Die Ukraine ist – und sie verdient das nicht – „nur“ ein Ort, wo die jetzige, weit allgemeinere und sehr ernste Krise am sichtbarsten auswirkt und wo Leute deswegen getötet werden. In einer weit größeren Zahl als vor zwei Wochen in Paris. Ich spreche über eine evidente Krise des Westens, derer Umfang und Tiefe wir uns immer noch nicht zugestehen wollen. Wir versuchen sie durch eine umso größere Expansion unserer Weltauffassung, unserer Werte, unserer geopolitischen Ambitionen zu verbergen, und damit kreieren wir neue Brennpunkte der Spannung. Die Ukraine ist einer von ihnen.

Ich möchte gut verstanden werden. Auf einer Seite gilt es sicherlich, dass es eine Krise in der Ukraine gibt, und dass sie primär heimischen Ursprungs ist. Sie wurde durch einen offensichtlichen Misserfolg dieses Landes hervorgerufen, erfolgreich den Übergang vom Kommunismus zur Freiheit, zur pluralistischen Parlamentsdemokratie und Marktwirtschaft, sowie in gleichem Maße die Transformation aus der passiven Rolle einer bloßen Administrativeinheit des totalitären sowjetischen Imperiums zur eigener Staatlichkeit und Souveränität zu schaffen. Ich bin der Meinung, dass die Ukraine in dieser Hinsicht mehr als jedes anderes Land Mittel- und Osteuropas versagt hatte.

Das kann wohl nicht abgestritten werden, obwohl es angebracht ist zu fragen, ob das – angesichts der gegebenen Umstände – unausweichlich war, oder ob das wenigstens entschuld- und erklärbar ist. Es ist ein unumstrittenes Fakt, dass dieses – in europäischen Umständen - weitreichende Land in seinen jetzigen Grenzen künstlich entstanden ist, dass es in der ganzen Zeit seiner Existenz innerlich gespalten war und dass es immer eine kleine innere Kohärenz hatte, und zwar schon vor dem Anfang der Majdan-Proteste. Das musste selbstverständlich ein ernstes Hindernis für einen erfolgreichen Transformationsprozess darstellen.

Auf der anderen Seite ist ebenso offensichtlich, dass die jetzige ukrainische Krise grundsätzlich beeinflusst, wenn nicht direkt gelenkt vom Außen ist. Ich würde es so sagen, dass ein ursprünglich heimisches Problem in ein Duell um die Dominanz in Europa (und gar in der Welt), sowie in einen Zusammenstoß des schwächenden Westens mit immer mehr bewusstem Russland transformiert worden ist. Die Ukrainer sind in eine schlechte Position geraten, in der sie nur Instrument oder Objekt sind. Ich weiß nicht, ob sie sich dessen bewusst sind? Wenigstens ihre politischen Eliten? Ich bin mir dessen nicht sicher.

Ich muss zugeben, dass ich bei allen EU und NATO Summits, an denen ich in den letzten Jahren teilgenommen habe, immer nervös war, wenn die Debatte über die Mitgliedschaft der Ukraine in diesen zwei westlichen Organisationen anfing und wenn ich die Pro und Kontra Argumente hörte. Ich erinnere mich gut an den dramatischen Abend und die Nacht auf dem Bukarester NATO-Summit im Jahre 2008 (über die Mitgliedschaft von Georgien, Mazedonien und der Ukraine). Auch dort war ich überzeugt, dass die Ukraine zur vorzeitigen Entscheidung, ob das Land zum Westen, oder Osten gehört, gezwungen wurde, und dass gerade das der sicherste Weg zur dessen Zerschlagung sei. Vor einem Jahr, im Februar 2014, habe ich es eindeutig formuliert: „Die Ukraine vor der Wahl zwischen Osten und Westen zu stellen, bedeutet sie zu vernichten. Das wird das Land zu einem unlösbaren Konflikt führen, der ein tragisches Ende haben muss.“[1] Gerade das geschieht vor unseren Augen.

Das gegenwärtige geopolitische „Spiel“ hat mit so naiv gefeierten „farbigen“ Revolutionen in einigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion (sowie in manchen arabischen Ländern) angefangen, die oft einen Ausfuhr der Demokratie und der westlichen Auffassung von Menschenrechten in die unvorbereiteten, vom Westen geographisch entfernten, kulturell und zivilisatorisch unterschiedlichen Territorien bedeuteten. Ich muss zugeben, dass ich den Ansatz der heutigen ukrainischen Probleme schon bei der – für mich unklaren und unüberzeugenden – und von Europa und Amerika damals unkritisch gefeierten „orangenen Revolution“ im Jahre 2004 gesehen habe. Sie war nur teilweise ein authentischer heimischer politischer Aufstand, größerenteils jedoch eine vom Außen organisierte Ausfuhr der Demokratie als Weg zur Gewinnung eines geopolitischen Vorteils (und vielleicht auch ein Versuch, die eigenen Probleme des Westens zu übertönen).

Die Ukraine ist in die Rolle eines Instruments in diesem viel größeren Spiel, im Duell mit dem stärker werdenden Russland, erniedrigt worden. Die Frage ist, wie man daraus kann. Die letzten fünfzehn Monate zeigen, dass eine weitere Fortsetzung der Krise untragbar ihre Kosten erhöht, die Spaltung des Landes vertieft und das Ausmaß seiner Destabilisierung stärkt. Wenn wir auf die Entwicklung in der Ukraine ohne Vorurteile mit offenen Augen schauen, müssen wir zum Schluss kommen, dass die Ukraine in eine Falle der sich verändernden geopolitischen Situation geraten ist und dass Russland – dagegen – dank dieser Veränderung seine neue Identität findet (oder wenigstens die alte stärkt). Die sich verändernde Situation ist im erheblichen Maße ein Produkt von Problemen des Westens, seiner sich verlierenden Identität, seiner wirtschaftlichen Stagnation, seines kulturellen und zivilisatorischen Verfalls.

Ich fürchte, dass sich die Ukraine, bzw. ihre dominierenden politischen Kräfte immer noch riskant auf irgendeine zukünftige Intervention verlassen, und keine heimischen politischen Lösungen suchen. Sie kommen mit keinen Kompromissen, die sie den Leuten im östlichen Teil ihres Landes anbieten könnten, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie verlassen sich auf Repression und auf unrealistische Erwartungen der westlichen wirtschaftlichen und militärischen Hilfe. Die kommt nicht.

Es gibt keinen anderen Weg aus dieser Falle, als Verhandlungen und Kompromisse. Den heutigen Stand der Dinge aufrechtzuhalten, kann im Interesse weder der Ukraine noch Russlands, noch des Westens sein. Aus einer langfristigen Perspektive verlieren wir alle.

Die Entwicklung in der Ukraine und um die Ukraine trägt auch zur Destruktion des heute bestehenden, wie auch immer unvollkommenen Systems von internationalen Beziehungen bei, und führt dazu, dass man Wege zur Lösung anderer aktueller Probleme der Gegenwart – wie z. B. der Situation im Nahen Osten oder der Terroranschläge in Europa – verliert.

Dürfte ich zusammenfassen: statt die Ukraine und Russland sollten wir Europa und den Westen diskutieren.

[1] Politischer Kommentar IVK Nr. 19 - Zur Situation in der Ukraine, 21. 2. 2014, https://www.klaus.cz/clanky/3524.

Václav Klaus, Rede im Panel “Europa, die Ukraine und Russland“, Vienna Com.Sult Congress, Haus der Industrie, Wien, 20. Januar 2015. Übersetzung von dem englischen Original.

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