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Die europäische Herausforderung am Ende des Jahrhunderts

Deutsche Seiten, 6. 6. 1999

Eine Sache ist es, die Herausforderung Europas am Ende des Jahrhunderts vom Blickpunkt eines Landes aus zu diskutieren, das - nach einem halben Jahrhundert Kommunismus - wieder ein normales Land werden möchte und alles tut, was in seinen Kräften steht, um der Europäischen Union so bald wie möglich beizutreten. Eines Landes, das weiss, dass der europäische Integrationsprozess eine Realität darstellt, die keine sinnvolle Alternative hat, aber gleichzeitig weiss, dass die heutige Form dieses Prozesses - vereinfacht gesagt, die Unifikation des Maastricht-Typs - nicht die beste Variante ist, die Europa wählen konnte. Diese Kombination bringt den Politiker solch eines Landes in eine sehr widerspruchsvolle Position und ich persönlich empfinde sie als sehr schwierig.

Eine andere Sache wäre, dasselbe Problem vom Gesichtspunkt eines Landes zu diskutieren, das schon ein Mitgliedsstaat der EU ist. Eines Landes wie Östereich oder Deutschland, aber dieser Sicht der Dinge werde ich hier nicht nachgehen. Unter anderem deshalb, weil es mir nicht zusteht.

(Ebenso möchte ich keinen Bewertungsversuch der sehr spezifischen schweizerischen Ansicht unternehmen.)

Der dritte Aspekt wäre die Frage, ob es überhaupt möglich ist, einen neutralen Blick auf Europa und insbesondere den Versuch einer vorsichtigen Einschätzung seiner Position in der gegenwärtigen und vornehmlich zukünftigen Welt zu richten. Eben das will ich heute in meinem Beitrag versuchen. Ich weiss aber, dass ich nicht völlig neutral oder distanziert sein kann und dass ich nur über einen kleinen Teil des heutigen europäischen Problems sprechen werde. Dieses hat gewiss viele weitere Dimensionen, von denen ich bewusst absehen werde.

Für mein heutiges Auftreten wähle ich die Problematik des sich nähernden Endes der ersten Dekade der postkommunistischen Ära im Osten Europas sowie die Problematik der heute wichtigen Ideen-Kreuzung im Westen Europas.

Die Einschätzung der Situation und der Atmosphäre in Mittel- und Osteuropa wird heute bestimmt besonders durch die Entwicklung der letzten Zeit, das heisst der zweiten Hälfte der Dekade beeinflusst. Wir nähern uns dem Ende eines Jahrzehnts, das - vor rund 10 Jahren - in diesen Ländern mit grossen Hoffnungen begonnen hatte. Heute herrscht dort aber eine gewisse Enttäuschung. Nach dem Kollaps des Kommunismus (und ich spreche immer und bewusst von einem Kollaps, denn der Kommunismus wurde nicht niedergeschlagen) und nach Beendigung (oder wenigstens einer deutlichen Abschwächung) des Ost-West-Konflikts waren fast alle der Meinung, dass für Europa, wie auch für die gesamte Welt, eine ausserordentlich günstige Periode beginnt. Es schien, dass das Ende des Kommunismus - in Ländern wie der Tschechischen Republik - sofortige, greifbare, messbare und in jedem Falle ausschliesslich positive Effekte bringen werde.

Es wurde vergessen, dass jede tiefgreifende Veränderung des gesellschaftlichen Systems (und zwar jedes Systems), die Veränderung der Regeln seines Funktionierens, die Verändereung der bestehenden Institutionen, und die Veränderung äusserer Bedingungen, unter denen es funktioniert, zuerst eine grosse Erschütterung (einen Schock) bedeutet. Dieser Schock ist notwendigerweise sehr kostspielig. Er führt dazu, dass die Kosten dieses unikaten historischen Manövers in der ersten Phase der Transformation deutlich dessen Nutzen übersteigen. Dank dieser Tatsache (und Dank der eneormen und schnell anwachsenden Erwartungen) hat sich im Verlaufe des letzten Jahrzehnts in allen Reformländern die Lücke zwischen Erwartungen und Realität nicht verringert, sondern vergrösserte sich sogar noch. Und das sage ich mit dem Wissen und der tiefen Überzeugung, dass die Verbesserung des Lebensstandards der Menschen in den postkommunistischen Ländern in den neunziger Jahren wirklich evident ist und ausser Frage steht. Nichtsdestoweniger dominieren Gefühle (unlängst meinte jemand nett: „perception is always rights“) - und diese spiegeln diese Lücke stärker wider, als die Realität selbst.

Es war ebenso angenommen worden, dass die Transformation dieser Länder einen geradlinigen, linearen Prozess darstellt, der politisch nur durch den Widerstand der kommunistischen Parteien und anderer Anhänger des ehemaligen Regimes gebremst werden könnte. Es zeigt sich aber, dass auch diese Annahme ein Irrtum war. Die Kommunisten waren - besonders zu Beginn - so isoliert, eingeschüchtert und deprimiert (was heute auf keinen Fall mehr zutrifft), dass sie mehr oder weniger eine marginale Rolle gespielt haben (besonders in der Politik und auf der Makroebene). Zur Bremse der Geradlinigkeit des Transformationsprozesses wurden ganz legitime, aber trotzdem zum Liberalismus alternative Ideologien, die die Möglichkeit erhielten, in die plötzlich geöffnete, volldemokratische, extrem antiautoritative Gesellschaft (als übertriebene Reaktion auf die Vergangenheit), ihre, manchmal sehr extremen und ohne Zweifel partiellen Haltungen einzubringen und damit die schwierige Realität der Transformation zu beeinflussen.

Wenn ich das sage, zweifle ich nicht an der Legitimität dieser Haltungen. Ich mache nur darauf aufmerksam, dass diese Haltungen, die in der normalen westeuropäischen Gesellschaft nur die „Würze“ ihres hochstabilisierten Systems darstellen und nur die Einzelheiten „at the margin“ hinzufügen oder abnehmen, bei uns die Substanz des Streites um den Charakter des Landes und seines Gesellschaftssystems bedeuteten.

In jedem Falle muss ich die empirisch dokumentierte Wahrheit akzeptieren, dass es in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in allen Reformländern Mittel- und Osteuropas sowie in „emerging markets“ anderer Kontinente zum markanten Anwachsen der Instabilität kam. Von aussen wird die Schuld diesen Ländern, ihrer Unreife und ihren Fehlern zugeschoben. Dass sie unreif sind und Fehler machen, ist sicher wahr, trotzdem kann das nicht die Ursache für die Verstärkung derer heutigen Probleme sein. Mögen wir über diese Länder denken, was wir wollen, ihre Unreife und Unvollkommenheit hat sich mit der Zeit, das heisst im Laufe dieses Jahrzehnts, bestimmt verringert. Nicht umgekehrt.

Ihr heutiger Zustand stellt eine notwendige Entwicklungsetappe dar, die nicht übersprungen werden kann. In einer idealen Welt oder im Laboratorium eines Sozialingenieurs könnte alles völlig anders aussehen, doch in der komplizierten Realität einer offenen, pluralistischen und ausserordentich demokratischen Gesellschaft kann das leider nicht anders ausschauen. Die zerbrechlichen und verwundbaren, aber trotzdem schnell geöffneten Märkte (und ich wiederhole, dass diese Märkte nach einem einzigen Jahrzehnt keine anderen sein können) trafen in den letzten Jahren auf eine neue Phase der weltweiten Globalisierung, und besonders auf liberalisierte Kapitalmärkte sowie schnelle Bewegungen des Kapitals (von Zusammenstössen mit dem protektionistischen Europa ganz zu schweigen), und das Ergebnis dieser Kombination konnte nichts anderes als die heutige Krisensituation in einer Reihe von Ländern Südostasiens, Lateinamerikas und auch Mittel- und Osteuropas sein.

Ein zusätzliches Problem kam durch die Bewältigungsversuche dieser Krise hinzu, die - in Form extrem verstärkter Restriktion in der Geldpolitik und hauptsächlich mittels hoher realer Zinssätze - der Internationale Währungsfonds und andere Internationale Finanzinstitutionen diesen Ländern, und zwar absolut unnötig, auferlegten. Diese Behandlung heilte die Unreife und Verwundbarkeit dieser Länder nicht, sondern im Gegenteil: sie vertiefte die Krise. Als Randbemerkung füge ich hinzu, dass man zum selben Ergebnis käme, würde man diese Behandlung entwickelten Volkswirtschaften verschreiben. (Ich will nicht soweit gehen, dass ich im Verhalten der ausländischen „Berater“ etwas Anderes als einen intellektuellen Fehler sehen möchte, jedoch scheint es mir ausser Frage zu stehen, dass darin auch das sehr profane - und deshalb verständliche - Interesse einer sehr spezifischen und sehr gut zusammenarbeitenden Interessengruppe internationaler Berater, Auditoren, Investitionsbankiers und Bürokraten internationaler Finanzinstitute lag.)

Dank all diesen Umständen war die früher mehr oder weniger angenommene Transformationstrategie angezweifelt worden, was in allen diesen Ländern die heutige Situation kompliziert erscheinen lässt. Der nachfolgende Zeitabschnitt wird deshalb nicht leicht und man kann ihn nicht auf die formellen Elemente eines Bereit-Seins oder Nicht-Bereit-Seins einzelner Länder für den EU-Beitritt reduzieren, wie es häufig Beamte dieser Institution beziehungsweise die Medien tun.

Ein nicht geringes Problem sehe ich aber ebenso in Europa, bzw. in Westeuropa selbst. Auch dieses nähert sich einer gewissen Kreuzung, die mit einem Unsicherheitsgefühl in der Konkurrenz mit anderen, schnell wachsenden und sich emanzipierenden Kontinenten verbunden ist. Das Problem sehe ich in den heutigen Unifikationstendenzen, die meines Erachtens ein Ersatzprojekt darstellen. Dieses wird anstelle eines anderen, weit erforderlicheren Projekts realisiert - anstelle des Projekts der konsequenten Liberalisierung Europas im Sinne klassischer liberaler Prinzipien.

Die heutige Form der europäischen Unifikation ist aus meiner Sicht das Produkt des „dritten Weges“ in der europäischen Politik. Argumente zu dieser Haltung gibt es in unerschöpflichen Mengen. Es beginnt beispielweise mit der beinahe panischen Furcht der Mehrheit europäischer Politiker, das Wort „die Rechte“ zu gebrauchen. Betrachten wir dieses aufmerksam, so müssen wir beachten, dass jeder Politiker zur Mitte marschiert. Das ist kein Zufall. Das ist der Ausdruck des ausserordentlichen Erfolgs einer besonderen Ideologie, bezeichnet als „Ende der Ideologien“. Diese neumodische Ideologie - in Amerika am häufigsten „Kommunitarismus“, in Europa eher „bürgerliche Gesellschaft“ genannt - ist die neue Version des Versuchs einer unpolitischen Politik und bedeutet die Anknüpfung an altbekannte kollektivistische, also unliberale Konzeptionen, wie den Syndikalismus und den Korporativismus. Sie ist auch der Versuch eines modernistischen, technokratischen Konstruktivismus und ich würde hinzufügen, sie stellt auch den Versuch der Verwirklichung von Utopie oder Antiutopie des Typs Brave New World dar (nach dem bekannten Buchtitel von Huxley). Diese Ideologie teile ich nicht und nehme deren gefährliche Tendenzen sehr intensiv wahr.

Die heutige Version der Europäischen Union ist ein solches apolitisches Projekt und gerade darin liegt ihr Problem. Wenigstens für mich. Der Versuch der Schaffung des „universal welfare state“ oder - vielleicht anschaulicher - in deutsch des „Vater Staates“ und die Betonung auf „Bündnis für Arbeit“ (alliance for work) sind eindeutige und klare Losungen beziehungsweise Konzepte dieses „dritten Wegs“, vor dem ich mir erlaube zu warnen. Ich stehe mit dieser Warnung nicht allein, obgleich mein Warnen wahrscheinlich auf einer bestimmten Überempflindlichkeit meinerseits basiert, die mit der Erfahrung zusammenhängt, den Grossteil meines Lebens unter dem kommunistischen Regime verbracht zu haben und direkter Zeuge sowie gewissenmassen ebenfalls aktiver Teilnehmer der Reformen im Sinne des dritten Wegs von Ota Šik in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in der Tschechoslowakei gewesen zu sein. In der Ära der Reagan-Thatcher-Revolution schien es für uns schon, als ob diese Haltungen definitiv besiegt worden waren. Heute sehen wir, dass das leider anders ist.

Die französischen, deutschen und skandinavischen ideologischen Haltungen oder die des „Mittelmeerraums“ sind bekannt. Die Neuigkeit des letzten Zeitabschnitts ist der rasante Eintritt Grossbritanniens in diesen Klub. Im einflussreichen Buch des englischen Labouristen-Theoretikers (und Berater Blairs) Anthony Giddens „The Third Way“ von 1998 (Cambridge, Policy Press) werden sieben Hauptgründe für die Existenz des Staates in der modernen Gesellschaft angeführt. Ich denke, dass sie für meine heutige Argumentation relevant sind. Analysieren wir diese aufmerksam:

1. l. the provision of public goods (Gewährung öffentlicher Güter)

2. tie regulation of markets in the public interest (Regulierung der Märkte auf der Grundlage öffentlichen Interesses);

3. the fostering of social peace (Schaffung eines Sozialfriedens);

4. the active development of human capital through a central role by the state in the education system, thereby shaping norms and values (aktive Schaffung menschlichen Kapitals durch die zentrale Rolle des Staates im Schulwesen und damit Beeinflussung der gesellschaftlichen Normen und Werte);

5. the provision of infrastructure (Gewährleistung der Infrastruktur);

6. the fostering of regional and transnational alliances and the pursuit of global goals (Schaffung regionaler und übernationaler Verbände und Bündnisse und Bemühung um globale Ziele);

7. the role as a prime employer in macro- and microeconomic institutions and, especially, in ecological matters (der Staat als primärer Arbeitgeber in Makro - und Mikroinstitutionen, insbesondere im ökologischen Bereich).

Es besteht kein Zweifel daran, dass der erste, dritte und fünfte Punkt dieser Aufzählung von einem klassischen Liberalen akzeptiert werden kann, aber ebenso klar ist es, dass alle übrigen Punkte Ausdruck einer ganz gegensätzlichen Weltanschauung sind und dass sie den Versuch darstellen, den Politikern - und keineswegs den Bürgern - eine praktisch unbegrenzte oder gar zu grosse Macht zu geben. Das Verhältnis Bürger-Staat verändert sich damit grundsätzlich. Die Herausforderung für Europa liegt darin, ob dieses Denken im 21. Jahrhundert zunehmen wird oder nicht.

Ich fürchte, dass diese Schlüsselfrage im heutigen Europa nicht in dieser Schärfe verstanden wird. Ich bin aber davon überzeugt, dass dies ein grosser Fehler ist. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Fehler auch in den nachfolgenden Jahren fortgesetzt wird. Ich gehe davon aus, dass wir in dieser Hinsicht in einem gemeinsamen Boot sitzen - und dieses Boot heisst Europa.

Václav Klaus, Internationales Bodenseesymposium, Bregenz, 6. Juli 1999

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