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Der heutige europäische Integrationsprozess

Deutsche Seiten, 16. 10. 2000

Heute nachmittag möchte ich hier ein paar Worte zu der Entwicklung in Mittel- und Osteuropa und zu dieser Phase der europäischen Integration sagen und zwar vom Blickpunkt eines jemanden, der in einem Land lebt, das – nach einem halben Jahrhundert Kommunismus – ein normales Land werden möchte und das alles tut, was in seinen Kräften steht, um der Europäischen Union so bald wie möglich beizutreten. Vom Blickpunkt eines Landes, das weiß, daß der europäische Integrationsprozess eine Realität darstellt, die für uns keine Alternative hat, aber das gleichzeitig denkt, daß die heutige Form dieses Prozesses – die Unifikation à la Maastricht – nicht die beste Variante ist, die Europa wählen konnte.

Europa besteht leider noch heute aus zwei Teilen. Wir – im Osten – sind am Ende eines Jahrzehnts, das – vor 10 Jahren – mit großen Hoffnungen und Erwartungen begonnen hatte. Heute herrscht hier eine gewiße Enttäuschung. Nach dem Kollaps des Kommunismus (und ich spreche immer und bewußt von einem Kollaps, denn der Kommunismus wurde nicht niedergeschlagen) und nach Beendigung (oder wenigstens einer deutlichen Abschwächung) des Ost-West-Konflikts waren fast alle der Meinung, daß für Europa, wie auch für die gesamte Welt, eine außerordentlich günstige und einfache Periode beginnt. Es schien, daß das Ende des Kommunismus – in Ländern wie die Tschechische Republik – sofortige, greifbare, meßbare und in jedem Falle ausschließlich positive Effekte bringen wird.

Es wurde vergessen, daß jede tiefgreifende Veränderung des gesellschaftlichen Systems (und zwar jedes Systems), die Veränderung der  Regeln seines Funktionierens, die Veränderung der bestehenden Institutionen, und die Veränderung äußerer Bedingungen, unter denen es funktioniert, zuerst einen Schock und dann Kosten bringt. Die Kosten dieses unikaten historischen Manövers übersteigen in der ersten Phase deutlich dessen Erträge. Dank dieser Tatsache (und Dank der enormen und schnell anwachsenden Erwartungen) hat sich im Verlaufe des letzten Jahrzehnts in den Reformländern die Lücke zwischen Erwartungen und  Realität nicht verringert, sondern vergrößert. Und das sage ich mit dem Wissen und der tiefen Überzeugung, daß die Verbesserung der Realität und auch des Lebensstandards der Menschen in den postkommunistischen Ländern in den neunziger Jahren wirklich evident ist und außer Frage steht. Nichtsdestoweniger dominieren Gefühle (unlängst meinte jemand richtig: „perception is always right“).

Am Anfang der neunziger Jahre haben wir bei uns sehr schnell eine offene, pluralistische, demokratische Gesellschaft gebildet. Ihre Entstehung war überraschenderweise relativ einfach.

Demokratisch war auch der gesamte Transformationsprozeß. Niemand hat etwas von oben dirigiert. Es gab keine autokratische Politiker, die die Kraft und das Mandat gehabt hätten, die Transformation nach irgendwelchen eigenen Ambitionen zu „dosieren“. Es handelte sich um einen Evolutionsprozeß, um eine Mischung von Absichten und einer Spontaneität, um beabsichtigte und gewollte Dinge, aber auch um unbeabsichtigte und nicht gewollte Dinge. Die Kritik, und zwar sowohl von innen wie auch von außen, versteht diesen Aspekt der Sache meistens nicht.

Die Politiker konnten nicht durch Gesetzgebung, mit Verboten und Geboten oder mit Staatsregulierung ein perfektes System schaffen. Sie konnten die Vergangenheit nicht abschreiben, sie konnten sich nicht an einen Nullpunkt stellen und sozusagen von Neuem beginnen. Anstatt eines Rückwärtsfalls an den Punkt Null mußten sie den Umfang der ökonomischen Verluste (gemessen am Output, am Sozialprodukt, an der Beschäftigungsrate) minimieren. Sie durften nicht die Entstehung einer schnellen Inflation oder sogar Hyperinflation zulassen. Sie durften das Land nicht übermäßig verschulden. Sie mußten die elementare soziale Kohärenz des Landes halten (nach dem dramatischen Anstieg der Einkommens- und Eigentumsungleichheit). Sie durften das Land nicht ans Ausland verkaufen und mußten sicherstellen, daß die Transformation eine hohe Inlandsbeteiligung hat.

Sie mußten die Märkte deregulieren, obwohl diese sehr imperfekt waren. Sie mußten auch, hinsichtlich der Nichtexistenz heimischen Kapitals, privatisieren. Sie mußten sich der Welt öffnen, obwohl klar war, daß das einen einseitigen Vorteil für die Außenwelt (und die einheimischen Verbraucher), nicht aber für die einheimischen Produzenten bedeutet. Sie mußten sich den  europäischen Integrationsprozessen anschließen, obwohl die Wirtschaftskraft und die Kunst des sophistizierten Protektionismus zum Vorteil der EU standen. Sie mußten Optimisten sein hinsichtlich der Anpassungsfähigkeit ihrer Mitbürger an veränderte Bedingungen, obwohl sie wußten, daß die Inertie menschlichen Verhaltens sehr hoch ist.

Vor allem war es nötig so bald wie möglich anzufangen. Es war nicht möglich zu sagen, daß wir 5, 10 oder 15 Jahre die gesetzlichen Bedingungen und den notwendigen institutionelen Hintergrund vorbereiten, oder die Menschen umschulen werden und erst dann anfangen. Das Ergebnis war keine lineare wirtschaftliche Entwicklung, es folgten enttäuschte Erwartungen, eine scharfe Abgrenzung zwischen Gewinnern und Verlierern sowie eine Infragestellung der ganzen Transformationskonzepte und ihrer Realisation durch die, die von Anfang an – aus unterschiedlichen Gründen – außen blieben.

In jedem Fall muß ich die empirisch dokumentierte Wahrheit akzeptieren, daß es in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in allen Reformländern Mittel- und Osteuropas sowie auf den „emerging markets“ anderer Kontinente zum Anwachsen der Instabilität kam. Von außen wird die Schuld diesen Ländern, ihrer Unreife und ihren Fehlern zugeschoben. Es ist aber nicht so einfach. Daß sie unreif sind und Fehler machen, ist sicher wahr, trotzdem kann das nicht die Ursache für die Verstärkung derer Probleme sein. Mögen wir über diese Länder denken, was wir wollen, ihre Unreife und Unvollkommenheit hat sich mit der Zeit, das heißt im Laufe dieses Jahrzehnts, bestimmt verringert. Nicht umgekehrt.

Ihr heutiger Zustand ist eine notwendige Entwicklungsetappe, die nicht übersprungen werden kann. In einer idealen Welt oder im Laboratorium eines Sozialingenieurs könnte alles völlig anders aussehen, doch in der  komplizierten Realität einer offenen, pluralistischen und außerordentlich demokratischen Gesellschaft kann das leider nicht anders ausschauen. Die zerbrechlichen und verwundbaren, aber trotzdem schnell geöffneten Märkte kämpfen in den letzten Jahren mit einer neuen Phase der weltweiten Globalisierung, und besonders mit liberalisierten Kapitalmärkte und mit schnellen Bewegungen des Kapitals (von Zusammenstößen mit dem protektionistischen Europa ganz zu schweigen).

Ein zusätzliches Problem kam durch die Bewältigungsversuche der Krisensituation in einer Reihe von Ländern. Ich spreche über Maßnahmen, die – in Form extrem restriktiver Geldpolitik und hauptsächlich mittels hoher realer Zinssätze – der Internationale Währungsfonds und andere Internationale Finanzinstitutionen diesen Ländern, und zwar absolut unnötig, ordinierten. Diese Behandlung heilte die Unreife und Verwundbarkeit dieser Länder nicht, sondern im Gegenteil: sie vertiefte die Krise. Trotzdem sind die Ergebnisse nicht so schlecht.

Ein wesentliches Problem sehe ich auch in Westeuropa. Wir leben in einer besonderen Zeit der europäischen Geschichte. Wir leben in einer Zeit, in der Nationalstaaten bzw. ihre Souveränität in Frage gestellt werden. Die Art und Weise mit der die Europäische Union mit Österreich umgegangen ist, die Art und Weise mit der  die internationale Gemeinschaft mit Jugoslawien umgegangen ist, aber auch der Umgang der Europäischen Union mit den Beitrittskandidaten aus Mittel- und Osteuropa, über den Umgang mit England in der Zeit der „Mad Cows“ganz zu schweigen, sind – meiner Meinung nach – sehr ähnlich. In diesen Fällen handelt es sich nur auf den ersten Blick um isolierte und in keiner Weise im Zusammenhang stehende Erscheinungen. Ich bin überzeugt, daß sie alle – bei aller Unterschiedlichkeit – etwas wichtiges gemeinsam haben.

Diese gemeinsame Sache ist der Versuch das Äußere in das Innere der europäischen Länder hineinzutragen. Ganz absichtlich mache ich kein Werturteil und sage nicht, ob es sich um richtige oder um falsche Ideen und Positionen handelt, denn darum geht es hier wirklich nicht. Es geht darum, daß es sich um Ansichten, die partiell, zeitlich bedingt und interessensgebunden sind. Der Anspruch auf ihre apriorisch beanspruchte Universalität, zeitliche Unabhängigkeit und tabuisierende Undiskutierbarkeit, muss klar und deutlich abgelehnt werden.

Gerade deshalb steht Europa heute an einer sehr gefährlichen und unübersichtlichen Kreuzung. Es ist dort aufgrund der Kumulation einer ganzen Reihe von Prozessen angelangt, die sicherlich nicht neu sind. Sie existieren schon längere Zeit unter der Oberfläche, neu ist nur ihr synergistischer Effekt.  

Zu ihnen gehören:

1.       Der Kollaps des Kommunismus, der zum allgemeinen Verlust der Aufmerksamkeit und Wachsamkeit geführt hat. Das hat dazu beigetragen, daß das hoffnungsvolle Ende eines linken Abenteuers nicht zur liberalen Ordnung, sondern zu einem leichten Sieg des Sozialdemokratismus und verschiedener dritter Wege geführt hat (die in ihrem Wesen nichts anderes als zweite Wege sind);

2.       Der neu geborene und mit einer neuen Vehemenz verbreitete Glaube an die Fähigkeit der internationalen intellektuellen Elite (und an die, an sie angeknüpften staatlichen Bürokratie), „eine Besitzerin der Wahrheit, der Vernunft und des Fortschritts“ zu sein, ergänzt durch ihr Selbstbewußtsein die eigenen Standpunkte auch außerhalb der politischen Standardmechanismen durchsetzen zu können;

3.         Beispiellose Liberalisierung und Öffnung gegenüber der Welt, die das – in manchem positive, nichtsdestoweniger sehr dramatische und nicht für jedermann barmherzige – Eindringen des Fremden, Anderen, Neuen in einen Raum ermöglichten, die ich mangels eines besseren Terminus mit einem Begriff aus der Psychologie als „intimen Raum“ bezeichnen möchte, auch wenn es sich in diesem Fall nicht um den intimen Raum eines Individuums handelt, sondern der Familie, der Komunität, des Volkes;

4.         Verschiedene kosmopolitische, Integrations- und Globalisierungstendenzen, die die ewige, aber immer wieder neue und wiederholte menschliche Suche nach der eigenen Identität dramatisieren und die die Befürchtungen aller Schwächeren oder der „nur“ etwas Kleineren verstärken;

5.           Beschleunigte Unifizierungstendenzen, die in Europa ohne die so sehr notwendige  Führung großer europäischer Politiker verlaufen, die in der Lage wären, sie den Bürgern Europas zu erklären und klar und deutlich die Notwendigkeit der Schwächung des Nationalstaates zu Gunsten des heute so sehr fetischisierten Gesamteuropäertums zu verteidigen;

6.         Radikale Erhöhung der Mobilität der Arbeitskräfte zwischen den einzelnen europäischen und auch nichteuropäischen Ländern und dadurch auch Anstieg von Unsicherheit bei den Bürgern, Ihre Unruhe und Ihr Gefühl von Bedrohung.  Diese Gefühle existieren, ob wir dies wollen oder nicht, ob wir darüber sprechen oder nicht, ob unsere Rhetorik manche als „politically correct“ oder auch „politically incorrect“ bezeichnet. Diese Mobilität wird durch die allgemeine Liberalisierung ermöglicht, aber ihr Ursprung ist in der Diskrepanz der Struktur der Arbeitsnachfrage und des Arbeitsangebots, die dadurch charakterisiert ist, daß die Arbeitsnachfrage in den „reichen“ Ländern Europas nicht dem in diesen Ländern generierten Arbeitsangebot entspricht.

Mit einer gewissen Übertreibung könnte man sagen, daß infolge dieser Prozesse die Jahrtausendwende eine Zeit der parallelen Integration sowie der Desintegration ist, eine Zeit der nominalen Integration sowie der realen Desintegration, eine Zeit der Integration in den Makrodimensionen und der Desintegration in der Mikro-Welt ist.

Der heutige europäische Integrationsprozeß ist ein wichtiger Bestandteil dieser Prozesse. Er ist ihre Folge, gleichzeitig jedoch auch ihre Ursache. Ich sehe Ansichten und Interessen der heutigen „Eurokratie“, die sehr stark von Ansichten und Interessen der normalen Einwohner Europas divergieren. Ich sehe ein sehr ernsthaftes Interesse der Kandidatsländer, sich am europäischen Integrationsprozeß authentisch zu beteiligen und sehe auch ihre große Sorge über ihre eventuelle Aussperrung. Ich sehe aber auch rationale Gründe der heutigen Mitgliedsstaaten, den status quo zu konservieren.

Das ist aber nur eine Seite der Sache. Es scheint mir absolut evident, daß sich Europa für lange Zeit nicht mit seinem Unifizierungsprojekt zufriedenstellen darf. Denn dieses stellt nur ein „Ergänzungsprogramm“ und im schlimmeren Fall sogar nur ein „Ersatzprogramm“ dar. Das Hauptprogramm für die Zukunft Europas muß seine  Transformation zu den Institutionen der klassischen, europäischen liberalen Ordnung sein. Nur ein solches Europa anzustreben ist für das 21. Jahrhundert sinnvoll.

Dies alles hat sicher auch seine tschechisch-österreichische Dimension. Bei der Ausarbeitung dieses Textes habe ich unsere gemeinsamen Beziehungen vom Zerfalls der Habsburger Monarchie, über die zwanziger und dreißiger Jahre, die Zeit des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges, die schwierige Nachkriegszeit, die Ära des Kommunismus und des Kalten Krieges bis hin zum hoffnungsvollen letzten Jahrzehnt rekapituliert. Mit Recht kann gesagt werden, daß die heutigen Beziehungen besser, gleichberechtigter und im gewißen Sinne tiefer als je zuvor sind. Es wäre gut, wenn wir uns dies alles vor Augen führen, um zu gewährleisten, daß es auch in Zukunft so bleibt.

Daher ist es erforderlich, daß wir jetzt, im Jahre 2000, nicht anfangen, die Vergangenheit zu reparieren, da sie weder zu reparieren ist, noch kann sie verändert werden. Dies betrifft natürlich die weite und auch die nahe Vergangenheit und dies betrifft auch die mehr als ein halbes Jahrhundert alte Ereignisse der Zeit des Faschismus, des Zweiten Weltkrieges und der Zeit unmittelbar danach. Keines dieser Ereignisse kann heute neu und besser durchlebt werden. Insbesondere kann kein ein Ereignis herausgerissen und nur einseitig etwas mit ihm gemacht werden. Versuche, dies zu tun oder zu verlangen, beunruhigen die Bürger der Tschechischen Republik mit Recht, und ich würde mir sehr wünschen, daß die tschechisch-österreichischen Beziehungen in der Zukunft durch diese absolut unproduktiven Komplikationen nicht mehr belastet werden. Die gesamte Welt und natürlich auch die tschechisch-österreichischen Beziehungen wären ohne Faschismus und Kommunismus vollkommen anders verlaufen, als es der Fall war, aber diese historischen Ereignisse sind geschehen und wir können sie nicht aus der Geschichte streichen. Dies betrifft natürlich auch alle anderen Dinge im menschlichen Leben, sicher nicht nur die Beziehungen zwischen Völkern.

Auch unsere heutigen partnerschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen müßen ohne Vorurteile verlaufen, ohne aprioristische Anforderungen und unter Respektierung dessen, daß beide Länder ihre komparativen Vorteile suchen und durchsetzen und ihre eigenen, geerbten oder neu entstandenen Probleme lösen. Die Energiesituation und die sich daraus ergebene Energiepolitik der Tschechischen Republik ist notwendigerweise und unausweichlich eine andere als die österreichische, wofür es viele angenehme und unangenehme, auf jeden Fall jedoch objektive Gründe gibt. Vereinfachte und einseitige Kampagnen über ein südböhmisches Kernkraftwerk sind meiner Ansicht nach unproduktiv. Sie können keine ernsthafte Entscheidung der tschechischen Regierung beeinflussen, aber unsere gemeinsamen nachbarschaftlichen Beziehungen erheblich verschlechtern.

Meine heutige Rede habe ich mit einer Überlegung über die Gefahr der äußeren Eingriffe in die inneren Angelegenheiten einzelner Länder begonnen, oder anders mit einer Überlegung über Dinge, die Österreich gerade in dieser Zeit so ungerecht und überflüssig überschütten. Wir müßen uns bemühen, daß sie sich niemals mehr wiederholen. Wir müßen uns – gemeinsam – bemühen, eine Welt zu schaffen, in der solche Dinge nicht möglich sind.

Václav Klaus, Bemerkungen zur Rede im Österreichischen Parlament, Wien, am 16. Oktober 2000.

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