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Rede des Präsidenten der Republik zum 28. Oktober 2011

Deutsche Seiten, 28. 10. 2011

Sehr geehrte hohe Vertreter der Verfassungsorgane, sehr geehrte Gäste, meine Damen und Herren,

Ich bin froh, dass wir auch dieses Jahr in solch einer repräsentativen Zusammensetzung in den Räumlichkeiten des historischen Vladislav Saals der Prager Burg zusammentreffen, um uns gemeinsam an unseren unbestritten größten Feiertag, den 28. Oktober, den Tag der Gründung unseres neuzeitlichen Staates, zu erinnern und ihn zu feiern.

Ich bin froh, dass mittels der Fernseh- und Rundfunktechnik auch unsere Öffentlichkeit, die ich herzlichst begrüßen möchte, an diesem Abend mit uns sein kann. Es ist gut, dass es bei uns immer noch viele Leute gibt, für die der achtundzwanzigste Oktober ein festlicher Tag ist.

Themen, die an diesem Abend – in dieser breiten Zuhörer- und Zuschauergemeinschaft – passend und aktuell angesprochen werden könnten, gibt es mehr als genug. Ich kann nur einige von ihnen erwähnen, die ich für am drängendsten halte.

Ich werde mich nicht – für manche vielleicht überraschend – mit der heutigen europäischen Krise beschäftigen, auch wenn sie außerordentlich wichtig ist und unsere heimische Entwicklung und langfristige Prosperität beeinflusst und bedroht. Darüber habe ich an diesem festlichen Tag schon mehrmals geredet, auch in der Zeit, wenn sich viele der Tiefe der sich nähernden Krise der europäischen Währung und der Wirtschaft nicht bewusst waren oder diese sich nicht eingestehen wollten.

Ich möchte über den breiteren Hintergrund dieser Dinge sprechen, weil ich nur da die Möglichkeit einer Lösung sehe. Wir leben in einer gewissermaßen seltsamen Zeit. Wir leben in der Zeit der Glorifizierung und der Verherrlichung des Globalen, in der Zeit der Betonung einer Welt ohne Grenzen, einer postnationalen Welt. Wir leben in einer Welt, die sich einredet, sich mit allem helfen zu wissen, denn dafür hat sie Internet, Google und Wikipedia, die künstliche Intelligenz, aber auch politische Korrektheit und technisch perfekte, geradezu Orwellsch ausgestattete Geheimdienste. Wir leben in einer Welt, die sich wie durch eine teuflische Versuchung von Goethes Mephisto zur Akzeptierung einer Haltung locken lässt, wonach die Vergangenheit bedeutungslos ist, als ob sie es nie gegeben hätte, in einer Welt, die denkt, dass es jederzeit möglich ist, von vorne zu beginnen, die sich so verhält, als ob es nichts anderes als die Gegenwart und die Zukunft gäbe.

Das ist ein großer Irrtum. Auch heute ist es notwendig, aus der Geschichte zu lernen, aus den Traditionen, den Erfahrungen und aus den über Generationen hinweg  bewährten Verhaltensformen. Auch jetzt, oder eher gerade jetzt, ist es notwendig zu wissen, dass der Hochmut unseres Verstandes das Bewusstsein eines gewissen Rahmens braucht, in dem wir uns bewegen dürfen und dass das Heraustreten aus diesem Rahmen riskant und gefährlich ist. Diese allgemeineren, scheinbar wenig praktischen Themen müssen wir uns klarmachen, denn ohne sie lassen sich die alltäglichen, partikulären, in manchem banalen, scheinbar nicht ausreichend großen und heroischen Themen, nicht erfolgreich lösen. Die Realität überzeugt uns davon heute und tagtäglich.

Den Generationen, die in den 80er Jahren und später geboren wurden, erscheint das, was sie um sich herum sehen, vielleicht als Selbstverständlichkeit, was es aber natürlich nicht ist. Es ist an uns Älteren, dass wir in unseren Kindern und Enkeln das Bewusstsein erhalten, wie leicht die Freiheit und die Möglichkeit eines sinnerfülltes Leben verloren gehen können und wie schwierig es ist, eine einmal verlorene Freiheit und eine demokratische Gesellschaftsordnung zurückzugewinnen. Das Erlebnis eines langen jahrzehntelangen Lebens in der kommunistischen Form der Unfreiheit hat unsere Sensibilität in diesen Dingen verstärkt und motiviert uns, ein System zu suchen, eine Ordnung, den Inhalt der Dinge und nicht nur ihre entleerte Form.

In einigen Tagen gedenken wir der 22 Jahre seit dem Fall des Kommunismus und dem Eintritt in die Ära der Freiheit, die uns – sicher auch durch unser eigenes Zutun – für solch lange Zeit verweigert war. Wenn es nur 5 oder 10 Jahre wären, würde ich die Frage stellen, ob es geeignet ist, „schon“ oder „erst“ zu sagen. Ich habe mir geantwortet, dass in mancher Hinsicht das Erste gilt und in anderer das Zweite. Nun haben wir keinen Anspruch mehr, diese Frage zu stellen, nun sind es ohne Zweifel „schon“ 22 Jahre. Eine längere Zeit der Freiheit, der relativen Ruhe und der  Entwicklung frei von Katastrophen haben wir in unserer relativ kurzen modernen Geschichte nicht gehabt.

Unsere 1. Republik, die vor 93 Jahren entstand, überdauerte nur zwei Jahrzehnte und wurde noch durch die große Wirtschaftskrise der 30er Jahre gestört, mit deren Tiefe die Krise am Ende des vergangenen Jahrzehnts nicht verglichen werden kann. In den 20 Jahren der Ära Masaryks und Beneš‘ ist viel Positives entstanden, an das wir anknüpfen könnten, aber alles endete mit dem Münchener Diktat, kurz danach mit der Besetzung der Reste unseres durch Hitlerdeutschland beschnittenen Landes und letztendlich mit dem Zweiten Weltkrieg mit all seinen Grausamkeiten. Heute drohen uns verschiedenen Gefahren, aber mit größter Wahrscheinlichkeit nicht die Zerstörung der Republik auf solch eine Art und Weise wie damals.

Dennoch erleben wir gegenwärtig nicht das Gefühl der Ruhe, der Zufriedenheit und der Sorglosigkeit. Im persönlichen Leben viele von uns vielleicht schon, aber im Bereich der öffentlichen Sphäre, der Politik, der Medien ist das nicht so, auch wenn die Realität – wie gewohnt – besser ist als ihr verzerrtes mediales Bild.

Die gesellschaftliche Unruhe ist nichtsdestotrotz deutlich, der Zusammenhalt unserer Gemeinschaft hat ernste und eher wachsende Risse. Das Misstrauen der einen gesellschaftlichen Gruppen gegenüber den anderen Gruppen ist relativ hoch. Das betrifft die verschiedenen gegeneinander abgegrenzten Mehrheiten und Minderheiten, das betrifft die politischen Parteien, die Politiker und die Bürger, die zielgerichteten, konzentrierten Interessensgruppen gegenüber der mehrheitlichen, nicht organisierten Gesellschaft, Roma und Nicht-Roma, Reichere und Ärmere, bzw. Reichere und diejenigen, die sich lautstark zum Sprecher dieser Ärmeren erklären. Diejenigen, die verschiedene “leichte“ (oberflächliche) Lösungen vorschlagen, finden ihr nicht minder  „leichtes“ (oberflächliches) Publikum. Alles ist erlaubt, Wörter, die öffentlich zu hören sind waren noch vor Kurzem unvorstellbar. Umso stärker die Wortwahl und die gnadenlosere Aburteilung, umso größer ist die Hoffnung auf das mediale Echo.

Ich ereifere mich überhaupt nicht gegen die legitime politische Auseinandersetzung, die dafür da ist, real existierende unterschiedliche Meinungen und Interessen auszutauschen. Was fehlt, ist die Fähigkeit, sich gegenseitig die rationalen Argumente der anderen Seite anzuhören. Z.B. zuzugeben, dass wir uns in der gegenwärtigen ökonomischen Lage nicht alles leisten können, dass es nicht nötig ist, alles sofort zu tun und dass umgekehrt einige Schritte notwendig sind und getan werden müssen – ohne Rücksicht darauf, wer derzeit auf den Oppositionsbänken sitzt. Wegen unseres Streits, wegen unseres Zögerns und unserer Unentschlossenheit, wegen der Kurzsichtigkeit unserer Erwägungen fehlt uns die  Befähigung, die Dinge effektiv und pragmatisch zu lösen. Jede Idee und jeder Vorschlag wird sofort herabgewürdigt, was Vielen die Lust und den Elan nimmt. Extrem unglücklich und außerordentlich riskant ist die künstliche Steigerung sozialer Spannungen als ein Mittel des politischen Kampfes. Auch wenn es jemanden einen kurzfristigen politischen Gewinn bringen könnte, letztendlich wendet sich das aber nicht nur gegen ihn, sondern gegen alle.

Die heutige Unruhe ist kein Abbild unserer materiellen Armut. Unsere Gesellschaft als Ganzes (oder der Durchschnitt) ist nicht arm und am Rand stehende, sozial schwache Gruppen unserer Mitbürger – bei einer deutlich homogenisierten tschechischen Gesellschaft – sind zum Glück nicht allzu groß, auch wenn ich ihre Probleme nicht unterbewerte. Wir sollten uns eingestehen können, dass wir bei den grundlegenden Parametern in der Etappe unserer Geschichte mit dem höchsten Wohlstand leben. Soweit uns einige Dinge – und das sicherlich zu Recht – stören, sollten wir uns immer der Relativität unserer Unzufriedenheit bewusst sein.

Der heutige Zustand der Unruhe und der Unzufriedenheit ist eher ein Bild des ideologischen Chaos, des Verlustes der traditionellen Werte, des raschen Eindringens neuer Verhaltensformen und nicht zuletzt des Begreifens der Freiheit als eine unverantwortliche Willkür. Zu diesem Zustand führt auch das Leugnen jedweder Autorität, das Nicht-Respektieren von Kenntnissen, Erfahrungen und menschlicher Reife, die unüberlegte Anhängerschaft zu Lausbubenhaftigkeit und Zügellosigkeit. Zu ihm führt auch das Leugnen und das Lächerlich machen traditioneller und durch Traditionen bewährter gesellschaftlicher Verhaltensformeln. Ich bin davon überzeugt, dass gerade hier alles beginnt.

Schon einige Male habe ich über das Verrohen der Politik und der Politiker gesprochen. Ich meine damit nicht nur das öffentlich, also quasi authentisch und aufrichtig gedachte Verwenden von Ausdrücken, die noch vor Kurzem in Gasthäuser niedriger Kategorie gehörten. Mehr stört mich die Skandalisierung der politischen Gegner mittels medialer Denunziation. Freie und unabhängige Medien haben für die Kontrolle der Politik und der Politiker für eine gesunde demokratische Gesellschaft eine unverzichtbare Rolle, aber einige bei uns verwendete Methoden sind eher ein Anzeichen für die Krankheit unserer Medien, als der Ausdruck ihres so notwendigen rationalen Funktionierens.

Wir wundern uns, dass wir uns nicht auf die Steuerhöhe, auf das Modell des Pensionssystems, auf das Nutzbringen von Essenstickets, auf das Abiturmodell, auf die Löhne von Staatsbeamten, auf die Art und Weise der Auswahl von Gewinnern öffentlicher Aufträge und auf Tausende andere Dinge einigen können, aber es kann vielleicht auch nicht anders sein. In der heutigen komplizierten Situation müssen wir daher anfangen, einen Konsens beim größten gemeinsamen Nenner der weit grundsätzlicheren Dinge zu suchen, wie Respekt für die Leistung und für die Arbeit, Respekt für Verdienste und für die Lebenserfahrung, Respekt für die Persönlichkeit und für die Ansicht des Anderen, Respekt für die Unterschiedlichkeit und für die sie notwendigerweise begleitende Demut, Respekt für die Dinge, die über das Individuum, sein Leben, das Ausmaß und die Tragweite unseres Lebens hinausreichen. Wir fürchten zum Beispiel die vom islamischen Fundamentalismus kommenden Zivilisationsattacken, aber zugleich tun wir selbst was wir können, um unsere eigene kulturell-zivilisatorische Basis zu zersetzen.

Zu der so sehr benötigten Wende steht selbstverständlich keine einfache Anleitung zur Verfügung. Dabei hilft auch nicht dieser und jener Regierungs- oder Parlamentsbeschluss, eine Richtlinie der Europäischen Union oder der Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Dafür ist es notwendig, Tausende von Kleinigkeiten zu tun, mit denen gleich morgen jeder von uns anfangen kann – unter der Voraussetzung, dass wir anfangen und nicht darauf warten, bis jemand anders anfängt. Dann könnten wir nämlich ewig warten.

Fangen wir deswegen bei uns selbst an. Bei uns zu Hause. In unseren Familien. Bei den Beziehungen der Kinder zu den Eltern und der Eltern zu den Kindern. Es ist nicht nötig, sich etwas Neues auszudenken. Es reicht, seine fünf Sinne zusammen zu nehmen und demütig – vielleicht nur um einen Schritt – zu den bewährten Methoden, Modellen, Werten und Tugenden zurückzukehren.

Wir haben viele aktuelle Teilthemen, aber die gehören zum Alltag. An einem Festtag können wir uns den Luxus gönnen, auf einer anderen Abstraktionsebene über die Dinge zu sprechen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

Václav Klaus, Vladislav Saal, Prager Burg, Prag, 28. Oktober 2011

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